Tod

«Ich hielt immer noch ihre Hand und streichelte ihr mit der anderen über das Gesicht»

Die Sterbehilfe-Organisation Exit hat im letzten Jahr rund 1100 Menschen in den Tod begleitet. Auch die Mutter von Kay-Yasmin Schmid aus Regensdorf entschied sich für eine Freitodbegleitung. Ihre 40-jährige Tochter war bis zuletzt bei ihrer Mutter. Im Gespräch lässt sie die letzten Stunden Revue passieren.

Kay Yasmin Schmid hält die letzten Minuten mit ihrer Mutter fest.
Kay-Yasmin Schmid und ihre Mutter halten sich fest. © z.V.g

«Meine Mutter, die 71 Jahre alt war, war ein herzlicher, warmer Mensch. Dabei hatte sie alle Gründe, dem Leben bitter gegenüberzustehen. Bereits als Kind musste sie häufig ins Spital, weil sie an Kinderlähmung erkrankt war. Als Erwachsene litt sie unter Brustkrebs und später unter dem Postpolio-Syndrom. Die Muskeln, Nerven und Organe werden dabei immer schwächer und ermüden. Sie litt unter starken Schmerzen. Das linke Bein war gelähmt. Zudem hatte sie eine vergrösserte Schilddrüse, die ihr das Schlucken und Atmen erschwerte. Ihr Körper war in einem schlechten Zustand. Sie liess sich davon aber nichts anmerken. Ärzte und Krankenhäuser suchten sie schon lange nicht mehr auf. Sie musste ihr ganzes Leben lang in Spitälern verbringen. Am Ende hatte sie einfach keine Lust mehr dazu. Einmal musste sie doch noch ins Spital. Durch einen Stich hatte sie eine Blutvergiftung erlitten.

Trotz ihrer Krankheitsgeschichte pflegte sie einen aktiven Lebensstil. Die Vorstellung, pflegebedürftig zu werden, war ihr unangenehm. Sie war zu sehr an das Leben gebunden. Ihre Kampfbereitschaft war überwältigend. Ich glaube, ich kannte keine Frau, die so stark war wie sie. Ihr Motto lautete: «Ein Indianer kennt keinen Schmerz.» Meine Mutter, die ewig starke Frau! Was jedoch in ihrem Inneren vorging, wusste ich bis zuletzt nicht.

Ich war bei meinen Eltern, zusammen mit meinem Freund und unseren beiden Hunden. Es klingelte um 9 Uhr morgens an der Türe, eine Mitarbeiterin von Exit und ein Arzt standen vor der Türe. Die Sterbebegleiterin von Exit liess uns Zeit. Doch meine Mutter kam direkt zur Sache und sagte: «Lasst uns vorwärtsmachen. Ich möchte es hinter mich bringen.» Sie trug ihr blaues Lieblingspyjama. Es war aus Satin und wirkte edel. Wir begaben uns in den Wintergarten, den meine Eltern als Lieblingsort hatten. Es ist dort schön sonnig und warm. An diesem Morgen schien die Sonne uns ins Gesicht.

Es war für mich schwierig, die Situation in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Mir kam alles so unwirklich vor.

Der Arzt rief meine Mutter ins Wohnzimmer, um mit ihr zu sprechen. Er hatte dort die benötigten Medikamente, ein Schlafmittel in zehnfacher Dosis und in flüssiger Form, vorbereitet. Die Einnahme des Schlafmittels würde man ihr intravenös verabreichen. Aufgrund ihres Kropfes konnte sie nicht mehr ausreichend schlucken.

Ich sass mit meinem Freund im Wintergarten. Mein Vater ging hin und her. Es war schmerzlich, ihn so zu sehen. Sie waren seit 50 Jahren jeden Tag zusammen, heute würde er seine Frau für immer verloren haben.

Meine Mutter kam zurück. Sie zündete sich eine letzte Zigarette an. Meinem Freund war die Situation zu viel. Er verabschiedete sich und ging mit dem Hund Rusty nach draussen. Wir wurden ins Büro gerufen. Meine Mutter und mein Vater liefen den Gang entlang, während ich ihnen nachkam. Meine Mutter legte ihren Arm um ihn, er stützte sie. Dieses Bild werde ich nie vergessen.

Im Büro befand sich ein Gästebett. Die Infusion hing an einem Kleiderbügel an der Lampe. Sie legte sich auf das Bett. Ich legte mich zu ihr hin und hielt ihre Hand fest. Mein Hund Pumba legte sich auf ihre Beine. Mein Vater hatte mit der Situation zu kämpfen. Es war für mich schwierig, die Situation in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Mir kam alles so unwirklich vor. Meine Mutter im Pyjama und auf dem Bett, wie sie war. Als ob sie gleich ins Bett gehen und einschlafen würde.

Plötzlich begann sie zu zittern. Sie weinte. Ich musste auch weinen. Mein Herz war gebrochen. Ich frage sie, ob sie das möchte. Es wäre noch möglich gewesen, es zu vorzeitig zu beenden. Sie sagte lediglich, dass ihr Entscheid klar sei, dass sie uns nicht belasten wolle. «Geht’s um das? Du kannst dich noch umentscheiden.» Sie drückte meine Hand fest.

Der anwesende Arzt stellte die Frage, ob wir weitermachen sollten. Schliesslich musste meine Mutter den Regler der Infusion betätigen. Das Aufrichten erforderte viel Kraft. Die Kochsalzlösung und das Medikament flossen durch den Schlauch und in ihre Vene. Ich frage sie, ob sie noch etwas habe. Sie sagte: Nein, ob ich noch etwas habe. Ich verneinte, ich sei mit mir im Reinen.

Sie weinte. Ich musste auch weinen. Mein Herz war gebrochen.

Sie hatte gerade etwas sagen wollen. Aber dann schlief sie ein. Ich erschrak. Ihre Brust hob und senkte sich regelmässig. Ihr Händedruck verringerte sich. Mein Hund Pumba legte sich auf ihre Brust. Er schnupperte an ihrem Gesicht. Erst nach wenigen Minuten legte er sich wieder zu ihren Füssen. Ich hielt immer noch ihre Hand und streichelte ihr mit der anderen über das Gesicht. Meine Mutter, die starke Frau. Jetzt war sie gegangen.

Irgendwann standen Polizisten und ein Bestatter im Wohnzimmer. Sie waren sehr einfühlsam. Die Bestattungsfirma lud meine Mutter auf eine Bahre ein und nahm sie mit. Sie wurde zweieinhalb Wochen später auf dem Friedhof kremiert. Die Asche soll nach Zypern kommen. Meine Eltern haben dort eine Zweitwohnung. Die eine Hälfte soll ins Meer gestreut werden, die andere in den Garten. 

Unser Leben ist weitergegangen. Auch für meinen Vater. Er hat inzwischen die Wohnung umgestellt und ist dabei, Gegenstände zu entsorgen. Das ist wohl seine Beschäftigungstherapie, die er ausübt. Mein Vater und ich sind nach dem Tod meiner Mutter näher zusammengerückt. Er versucht nach vorn zu schauen. Ich probiere das auch. Ich trage ihre Halskette jeden Tag. Meine Mutter ist immer bei mir.

aufgezeichnet  von Tatjana Jaun

Zur Person:

Kay Yasmin Schmid
Kay-Yasmin Schmid © zVg

Kay-Yasmin Schmid ist 40 Jahre alt. Sie ist Personaltrainerin und lebt mit ihrem Freund und ihren beiden Hunden in Regensdorf ZH.

Was ist eine Sterbehilfeorganisation?

Die beiden bekanntesten Organisationen in der Schweiz sind Exit und Dignitas. Das sind gemeinnützige Vereine. Sie streben danach, ihren Mitgliedern und anderen Personen ein menschenwürdiges Leben und Sterben zu ermöglichen. Personen, die sich für einen assistierten Suizid entscheiden, müssen urteilsfähig sein. Bei einer Demenzerkrankung muss ein Facharzt den Zustand der Person evaluiert haben.

Die häufigsten Beweggründe für einen assistierten Suizid sind gesundheitliche Diagnosen. Viele Sterbende leiden an einem Krebsleiden. Das geht aus aktuellen Zahlen von Exit hervor. Bei fast 40 Prozent der erkrankten Personen lag ein Krebsleiden vor. Zudem entscheiden sich immer mehr alte Menschen mit unterschiedlichen Beschwerden für eine Freitodbegleitung. 2021 waren es 320 Mitglieder, im Vorjahr waren es 264.

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