Streit an Weihnachten: «Man ist nicht verpflichtet, an Weihnachten teilzunehmen»
Beziehungskrise, Ehekrach, Familienzwist: Weihnachten blicken so manche mit gemischten Gefühlen entgegen. Wie kann man dafür sorgen, dass das Familienfest entspannt verläuft? Judith Herren, Psychotherapeutin aus Zürich, rät dazu, Konflikte vorab zu vermeiden, indem alle Beteiligten ihre Rolle und ihre Erwartungen klären. Falls das nicht möglich ist? «Dann ist eine gute Selbstfürsorge wichtig.» Was das bedeutet, erläutert sie im Gespräch.
Meine Eltern: Die Erwartungen an ein harmonisches Weihnachtsfest sind häufig zu hoch, was dazu führt, dass man schneller enttäuscht ist, wenn alles anders läuft, als erwartet. Über welche Themen wird in Familien gestritten?
Judith Herren: Jede Familie besitzt unterschiedliche Themen, Meinungen und Haltungen, die bereits unter dem Jahr Konflikte verursachen. Die Mutter schöpft ihrer Tochter ungefragt einen Teller Suppe. Die Tochter empfindet das als Grenzüberschreitung und fühlt sich bevormundet. Abweisend antwortet sie: Ich bin erwachsen und bin fähig, selbst zu schöpfen. Das tut der Mutter weh. Ein Konflikt kann bereits aus diesen Gründen entstehen.
Wie ist es möglich, dass solche scheinbar banalen Vorkommnisse für Zoff sorgen?
Es geht um die Frage der Autonomie und der Bindungsbedürfnisse. Vordergründig triviale Dinge werden plötzlich von Bedeutung. Man erwartet vom Gegenüber Toleranz und dass alle friedlich miteinander umgehen. Doch gerade an einem Weihnachtsfest geht es um festgefahrene Verhaltensmuster und Erwartungen, die man nicht über den Haufen werfen kann.
Wem reisst der Geduldsfaden zuerst?
Das ist sehr unterschiedlich. Oft sind es Ehefrauen und Ehemänner, die aus anderen Familienkonstellationen mit anderen Ritualen stammen und nicht viel vertragen.
Wie sollte sich der Partner oder die Partnerin an Weihnachten verhalten?
Sie sollten sich im Vorfeld mit dem Partner ausführlich über schwierige Themen unterhalten. Man sollte besprechen, wie man auf bestimmte Themen gemeinsam reagiert. Als Partner ist man berechtigt, zu bestimmen, welche Themen man an Weihnachten nicht auf den Tisch bringen möchte.
Muss ich an Weihnachten gegenüber dem Partner immer loyal auftreten?
Loyal ja, aber man darf sich auch als Teil der Familie verstehen. An Weihnachten haben Kinder oft Loyalitätskonflikte. Sie sind gleichzeitig ein Kind und ein Partner. Es ist wichtig, den eigenen Eltern zu signalisieren, wenn der Partner nicht bereit ist, einen Konflikt an einem bestimmten Tag zu klären. Es ist zudem möglich, sich um 22 Uhr statt um Mitternacht bereits frühzeitig zu verabschieden. Das kann für ein Paar angenehmer sein.
Und wie sollte die Tochter reagieren, wenn ihre Mutter ihr ungefragt Suppe schöpft?
Zuerst kann man Wertschätzung ausdrücken. Dann sollte man Grenzen setzen. Das klingt zum Beispiel so: Ich bedanke mich für deine Fürsorge. Ich kann dir jedoch versichern, dass ich in der Lage bin, selbst für meine Bedürfnisse zu sorgen. Magst du dich zu mir setzen? Ich würde gerne ein wenig mit dir plaudern.
Ist das Weihnachtsfest das Spiegelbild der Familie?
Die Weihnachtszeit verdeutlicht die Dynamik, die in der Familie herrscht. Geht es bereits unter dem Jahr konfliktgeladen zu und her, ist es auch an Weihnachten oft so. In Familien, in denen man einander aufrichtig und offen begegnet, haben Probleme eine andere Bedeutung. Wenn man unter dem Jahr gemeinsam Probleme löst, ist man auch zu Weihnachten entspannter, was Konflikte angeht.
Mit welcher Erwartung sollte man das Weihnachtsfest beginnen?
Man kann sich entscheiden, über bestimmte Themen hinwegzusehen oder sie zu vermeiden. Falls man dennoch darüber sprechen muss, sagt man, dass man es nicht wünscht. Es ist zudem ratsam, vor Weihnachten die Organisation der einzelnen Aufgaben zu besprechen. Ein gemeinsam gestaltetes Fest verteilt die Verantwortung für einen gelungenen oder eher schwierigen Abend auf mehrere Schultern.
Nicht jeder empfindet die Zeit mit seiner Familie an Weihnachten als angenehm. Kann man Weihnachten mit der Familie absagen?
Das ist erlaubt. Wenn Sie gewöhnlich viel Zeit mit Ihrer Familie verbringen, können Sie einen anderen Termin für Weihnachten vorschlagen. Es ist wichtig, das frühzeitig zu erwähnen, und nicht erst zwei Tage vor Weihnachten.
Wie kann ich einen alternativen Termin vorschlagen, ohne jemanden zu verletzen?
Es ist wichtig, immer aufrichtig und ehrlich zu sein. Hinzukommt: Entspannung auf Knopfdruck geht nicht. Die meisten Leute arbeiten noch bis zum 24. Dezember und machen sich dann auf den Weg zu ihren Familien zum Weihnachtsfest. Es ist dann schwierig, sich in Weihnachtsstimmung zu versetzen. Besser wäre es, zu sagen, dass man seine Eltern gerne mal stressfrei und an einem anderen Tag sehen möchte.
Manche Menschen drücken sich vor solchen Erklärungen und verbringen Weihnachten auf einer Ferieninsel.
Dies ist eine Option, die Konflikte vermeiden kann. Die Erklärung ist offensichtlich. Die Eltern können dennoch verletzt werden. Es ist wichtig, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Man sollte erst dann absagen, wenn man sich genug stark fühlt, die Enttäuschung zu ertragen.
Erwachsene Kinder haben oft ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich abmelden. Eltern erwarten, dass ihre Kinder an Weihnachten erscheinen. Was teilen Sie den Kindern mit, was den Eltern?
Es besteht keine Verpflichtung, an Weihnachten teilzunehmen. Es besteht aber der Wunsch, sich zu treffen und eine angenehme Zeit miteinander zu verbringen. Wenn es jedoch unmöglich ist, zu entspannen, ist es sinnvoller, die eigene Selbstfürsorge in den Vordergrund zu stellen und das Weihnachtsfest abzusagen. Man sollte sich auch von Weihnachtsfeiern fernhalten, wenn man keinerlei Freude an diesen Festen hat und auch keine initiieren würde.
Oft werden Familiennmitglieder sentimental, wenn sie Alkohol trinken. Wie geht man damit um?
Es gibt verschiedene Wege, den Abend angenehmer zu gestalten. Zum Beispiel kann man ein gemeinsames Spiel spielen, Musik hören oder ein Instrument spielen. Man kann einen gemeinsamen Spaziergang machen oder im Garten Wunderkerzen abbrennen. Der Partner kann sich auch von seinen Pflichten befreien und die Kinder betreuen und spielen. Die Weihnachtszeit bietet viel Spielraum für eigene Gestaltungsideen.
Die Zahl der Kirchenaustritte ist auf einem neuen Höchststand. Die katholische Kirche registrierte im Jahr 2020 über 34 000 Kirchenaustritte. Ist Weihnachten noch zeitgemäss?
Die Weihnacht in der Schweiz hat nicht nur mit der Religion zu tun. Es hat auch eine soziale, kulturelle Bedeutung. Bei den Eltern hat Weihnachten vielleicht eher noch eine religiöse Bedeutung. Bei Jüngeren steht das Zusammensein im Vordergrund. Man nähert sich dem Jahresende und kommt nochmals zusammen. Es ist ein Zeitpunkt für Rückschau und Vorschau. Weihnachten ist eingebettet in die Adventszeit. Samichlaus, Weihnachtslichter und Tannenbaum schmücken: All, das gehört dazu. Es hat etwas Genussvolles. Auch wenn sich die Realitäten von den Menschen verändern, das Sinnliche von Weihnachten bleibt vielen erhalten.
Arbeiten bis zum 24. Dezember, dann noch alle Geschenke einkaufen. Die vorweihnachtliche Zeit ist stressig. Wie kommt man da in eine sinnliche Stimmung?
Der Stress vor Weihnachten nimmt deutlich zu. Man arbeitet sich bis zuletzt ab und stolpert dann erschöpft in die Weihnachtszeit hinein. Oft ist es schwierig zu entscheiden, ob man sich am gesellschaftlichen Leben beteiligen möchte oder ob man lieber erst einmal Ruhe und Erholung benötigt. Stress fördert Konflikte an Weihnachten ungemein.
Wie schafft man es vor Weihnachten zur Ruhe zu kommen?
Es ist wichtig zu überlegen, welche Termine unbedingt einzuhalten sind und welche warten können. Viele verlegen den Einkauf der Geschenke bis in die letzte Woche und kaufen dann unter Zeitdruck alles zusammen. Man kann in der Adventszeit anfangen, sich jede Woche zu fragen, wo habe ich Zeit, was kann ich entspannt erledigen, wo lade ich mir zu viel auf. Wer auf eine gute Selbstfürsorge achtet, startet entspannt in die Weihnachtszeit.
Zur Person:
Judith Herren ist Psychotherapeutin und Supervisorin in Zürich. Sie ist in einer Praxisgemeinschaft tätig und arbeitet mit Erwachsenen, Paaren, Kindern, Jugendlichen und Familien in den unterschiedlichsten Lebenssituationen.