Krankheiten

Fürsorgerische Unterbringung: Gegen den eigenen Willen in die Psychiatrie

Rund 16 000 Menschen in der Schweiz werden in die Psychiatrie eingewiesen, auch wenn sie das nicht wollen. Im Schnitt sind das jeden Tag 40 Einweisungen. Dabei spricht man von einer fürsorgerischen Unterbringung. Doch was ist unter einer fürsorgerischen Unterbringung zu verstehen? Welche Voraussetzungen müssen für die Einlieferung erfüllt sein? Antworten auf diese Fragen finden Sie in diesem Artikel.

Eine fürsorgerische Unterbringung ist für alle Beteiligten unangenehm.
Eine fürsorgerische Unterbringung ist für alle Beteiligten unangenehm. © FatCamera / E+

Fürsorgerische Unterbringung – das Wichtigste in Kürze: 

Eine Person mit geistiger Behinderung wirkt stark verwahrlost, eine selbstmordgefährdete Frau schliesst sich in ihrer Wohnung ein, ein Senior schreit verwirrt Passanten auf der Strasse an: Das sind Beispiele, die eine Einlieferung in eine Institution wie eine Psychiatrie oder ein Pflegeheim notwendig machen können – auch wenn die betroffene Person das nicht will. Die Massnahme wird als fürsorgerische Unterbringung bezeichnet.

Was ist eine fürsorgerische Unterbringung?

Bei einer fürsorgerischen Unterbringung (FU) werden Menschen, die an einer psychischen Störung oder geistigen Behinderung leiden oder schwer verwahrlost sind, in eine Institution wie einer Psychiatrie und einem Pflegeheim untergebracht.

Die Massnahme gilt als umstritten. Laut Pro Mente Sana stellt sie die «intensivste Massnahme» des Erwachsenenschutzrechtes dar. Denn sie schränke die Persönlichkeitsrechte und die Selbstbestimmung der Menschen massiv ein. Die Unterbringung darf jedoch erst angewendet werden, wenn andere Massnahmen nicht wirken.

Fulvia Rota, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie SGPP, sagt: «Die SGPP vertritt die Ansicht, dass jede Zwangsmassnahme eine zu viel ist. Die Realität ist aber, dass eine fürsorgerische Unterbringung für Menschen in akuten Notsituationen (wenn sie also andere oder sich selbst gefährden), oftmals die einzige Möglichkeit darstellt, um unverzüglich Hilfe sicherzustellen – beispielsweise, um die nötige medizinische Behandlung zukommen zu lassen und im Hinblick auf eine spätere Entlassung die erforderliche Betreuung sicherzustellen.»

Für alle Beteiligten sei aber klar: Freiheitsbeschränkende Massnahmen seien immer «Ultima Ratio», da diese einen schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen darstellen. Ziel einer fürsorgerischen Unterbringung müsse deshalb möglichst immer auch die baldige Wiedererlangung der Selbständigkeit und Selbstverantwortung sein.

Laut Human Rights hat die Schweiz im Vergleich zu anderen europäischen Ländern einen der höchsten Anteile an Zwangseinweisungen. Etwa ein Viertel aller Patienten und Patientinnen werden gegen ihren Willen in eine Klinik eingewiesen.

Laut Fulvia Rota sind die Zahlen jedoch mit Vorsicht zu geniessen. Grundsätzlich sage die Höhe der Anzahl Zwangseinweisungen nichts über die Qualität der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung aus. Eine tiefe Zahl könne auch Ausdruck davon, dass sich der Staat schlicht nicht um Menschen in Notlagen kümmere; dass er sie buchstäblich verwahrlosen lasse, wie uns die Verhältnisse in den USA vor Augen führen, wo Armut und benachteiligte Menschen kriminalisiert statt sozial aufgefangen würden; es fehle dort an einem sozialen Auffangnetz. «Untersuchungen zeigen jedoch: Je besser das Gesundheitssystem, je höher das Bruttosozialprodukt und je tiefer die Armut in einem Land, desto höher ist tendenziell die Zahl der Zwangseinweisungen.»

Wann kann eine fürsorgerische Unterbringung angeordnet werden?

Die fürsorgerische Unterbringung – früher fürsorgerischer Freiheitsentzug genannt – ist gesetzlich geregelt. Laut dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch darf eine Person nur gegen ihren Willen in einer «geeigneten Einrichtung» untergebracht werden, wenn sie:

  • an einer psychischen Störung
  • einer geistigen Behinderung
  • unter einer schweren Verwahrlosung leidet.

Beispiel

Eine 75-jährige Frau leidet schon länger unter Wahnvorstellungen. Eines Tages bedroht sie ihren Mann mit einem Küchenmesser, woraufhin dieser ihre Psychiaterin anruft. Diese kommt vorbei und macht sich ein Bild von der Situation. Sie stellt fest, dass die Patientin seit einigen Tagen die Medikamente nicht mehr eingenommen hat und auch im Gespräch nicht dazu bewegt werden kann. Auch weigert sich die Frau, in die Klinik einzutreten. Da eine Gefährdung des Ehemannes und auch der Patientin selbst nicht auszuschliessen ist, muss die Psychiaterin eine fürsorgerische Unterbringung anordnen.

Eine Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik oder in einem Pflegeheim kann nur verordnet werden, wenn eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt. Unter Selbstgefährdung versteht man die körperliche oder psychische Gefährdung eines Menschen, zum Beispiel durch Selbstmordgedanken. Unter Fremdgefährdung versteht man ein unbewusstes oder bewusstes Handeln, mit dem die körperliche Unversehrtheit einer Drittperson gefährdet wird. 

Wer kann eine fürsorgerische Unterbringung anordnen?

Die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde sowie Ärztinnen und Ärzte können eine fürsorgerische Unterbringung ausstellen. Die meisten Kantone gewähren allen Ärztinnen und Ärzten dieses Recht. In einigen wenigen Kantonen sind nur einzelne medizinische Fachpersonen dazu berechtigt. Das hat Einfluss auf die Anzahl der Zwangseinweisungen: Während in Zürich, wo praktisch alle Ärztinnen und Ärzte einen Klinikaufenthalt gegen den Willen eines Patienten anordnen dürfen, die Zahl vergleichsweise hoch ist, ist diese in Basel, wo nur Amtsärzte dazu berechtigt sind, viel tiefer.

Wie lange geht eine FU?

Grundsätzlich gilt: Bei einer fürsorgerischen Unterbringung entscheidet die zuständige Einrichtung, wann die Person wieder entlassen wird. Nach dem Gesetz darf die Dauer des Aufenthalts höchstens sechs Wochen betragen.

Wie läuft eine FU ab?

Es gibt keinen beispielhaften Ablauf. Wie eine fürsorgerische Unterbringung abläuft, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Ein Beispiel eines Ablaufs:

Eine ältere Frau hat sich in ihrem Wohnzimmer eingeschlossen. Sie ist suizidgefährdet, ihr Mann ruft den Notfallarzt. Der Arzt entscheidet sich für eine FU, weil die Frau mit einem Suizid droht. Dazu füllt er ein FU-Formular aus. Darin enthalten sind Angaben wie der Ort und das Datum der Untersuchung, der Name der Ärztin oder des Arztes, der Befund, die Gründe und der Zweck der Unterbringung, so wie die Rechtsmittelbelehrung.

Dem Betreffenden wie auch der Einrichtung, die ihn aufnimmt, wird eine Kopie des Formulars ausgehändigt. Der Patient wird mit der Ambulanz, allenfalls auch von der Polizei, in die Klinik gebracht.

In einer fürsorgerischen Unterbringung kann man Beschwerde einlegen. Wenn die Person keine Beschwerde einreichen möchte, kann sie sich an eine Vertrauensperson wenden, die im Rahmen der ärztlichen Abklärung nachfragen darf, ob die Massnahme sinnvoll ist.

Was sind die Folgen einer Zwangseinweisung?

Fürsorgerische Unterbringungen stellen nicht nur für Patientinnen oder Patienten, sondern auch für die Ärztinnen und Ärzte und generell für das medizinische, pflegerische Personal und die Polizei eine grosse Belastung dar. «Kliniken analysieren fortwährend, inwiefern Zwangsmassnahmen reduziert werden können – auch indem alternative Methoden im Rahmen der Deeskalation geprüft werden, oder indem das Personal geschult wird mittels Deeskalationstraining», sagt Fulvia Rota.

Hanspeter Krüsi, Leiter Kommunikation der Kantonspolizei St. Gallen, sagt: «Immer wieder werden Polizistinnen und Polizisten bei den Einsätzen verletzt, weil sich die Betroffenen beim Abführen wehren.» Für die Polizei seien fürsorgerische Unterbringungen «keine angenehme Arbeit.»

Die Psychiaterin Fulvia Rota betont aber, dass eine grosse Mehrheit von FU gewaltfrei und trotz der schwierigen Situation recht geordnet und ruhig ablaufen. Die Polizei müsse oft auch gar nicht beigezogen werden.

Unabhängig von der Tatsache, dass fürsorgerische Unterbringungen für alle Beteiligten eine Belastung darstellen, sei es wichtig, dass nicht nur Fachleute ihre eigene Haltung regelmässig hinterfragen. «Es geht darum, dass politische und medizinische Akteure sowie alle Involvierten sich an einer gemeinsam entwickelten ethischen Haltung orientieren, die dem Selbstbestimmungsrecht der Patienten gerecht wird.»

Die Psychiatrie sei generell auf eine bessere Prävention und auf weitere Akteure angewiesen, um Zwangseinweisungen nachhaltig reduzieren zu können. «Es braucht mehr Angebote im Bereich ambulanter oder tagesklinischer Behandlungen sowie mehr sozialpsychiatrische Unterstützungsangebote, um Zwangseinweisungen vorzubeugen. Hier ist die Schweiz alles andere als vorbildlich.»

Wer bezahlt für eine fürsorgerische Unterbringung?

Wenn man bei einer fürsorgerischen Unterbringung nicht mit dem Auto oder dem öffentlichen Verkehr fahren kann, bringt die Polizei oder ein Rettungswagen die Personen in die Klinik.

Die Grundversicherung übernimmt 50 Prozent der Kosten, maximal 500 Franken pro Jahr.  «Die Kosten für einen Transport werden nur übernommen, wenn dieser medizinisch indiziert ist», sagt Christophe Kaempf von Santésuisse. Das heisst, ein Arzt hat die Situation beurteilt und eine konkrete medizinische Massnahme entschieden.

Eine Krankenversicherung übernimmt auch die Kosten für einen stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Die Patienten und Patientinnen müssen jedoch bedenken, dass noch 10 Prozent Selbstbehalt – maximal 700 Franken–, die Jahresfranchise sowie ein Beitrag von 15 Franken pro Tag auf sie zukommen.

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