Tod

 «Viele Menschen wissen nicht mehr, wie trauern»

Erika Schärer-Santschi ist Trauerbegleiterin. Sie unterstützt Menschen dabei, Abschied von der Vergangenheit zu nehmen und mit Trauer umzugehen. Kommunikationsmittel wie WhatsApp und Videokonferenzen beim Trauern helfen und wie sie professionell bleibt, verrät Schärer-Santschi im Gespräch mit meineeltern.ch. 

Eine weisse Blume.
Viele Menschen verunsichert bezüglich der Themen Verlust, Sterben und Tod – die Trauerbegleitung kann dabei helfen. © Heike Faber/ iStock / Getty Images Plus

Trauerbegleiterin – das Wichtigste in Kürze: 

  • Eine Trauerbegleiterin unterstützt Menschen im Abschiednehmen und im Trauern, indem sie ihnen hilft, sich an Vergangenes zu erinnern, Abschied zu nehmen. Weitere Aufgaben
  • Immer mehr Menschen wenden sich von der Kirche und religiösen Institutionen ab, die traditionell die Trauerbegleitung übernommen hatten. Was die Folgen auf das Trauern sind
  • Es ist nicht ideal, wenn ein Geschwister die Trauerbegleitung übernimmt, da jedes Kind eine einzigartige Beziehung zu dem Elternteil hatte und individuell trauert. Warum aber ein Austausch in der Familie wichtig ist
  • Jeder Mensch hat die Fähigkeit, Trauer zu durchleben, allerdings geschieht dies nicht bei allen gleich schnell oder auf dieselbe Art und Weise. Worauf es ankommt

meineeltern.ch: Was ist Ihre Aufgabe als Trauerbegleiterin? 

Erika Schärer-Santschi: Ich unterstütze Menschen im Abschiednehmen und im Trauern, indem ich ihnen helfe, sich an Vergangenes zu erinnern, Abschied zu nehmen und das Erlebte ins Leben zu integrieren, um für Neues im Leben Platz zu machen. Trauern ist normal und etwas Natürliches. Trauern allein ist meistens kein Grund für Psychotherapie oder Psychiatrie. 

Warum brauchen Menschen eine Trauerbegleiterin, wenn Trauern etwas Natürliches ist?

Wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft, die einem raschen Wandel von Werten unterliegt. Immer mehr Menschen wenden sich von der Kirche und religiösen Institutionen ab, die traditionell die Trauerbegleitung übernommen hatten. Gleichzeitig sind viele Menschen verunsichert bezüglich der Themen Verlust, Sterben und Tod. Sie fragen sich, wie ein natürlicher Trauerprozess aussieht und was als normal betrachtet werden kann. 

Was ist ein typischer Ablauf beim Trauern?

Es gibt keinen typischen Ablauf. Trauern ist ein höchst individueller Prozess, der stark davon abhängt, zu welchem Zeitpunkt im Leben ein Verlust eintritt. Die Trauer wird geprägt durch persönliche Erfahrungen und die eigene Lebenseinstellung aber auch durch die Kultur und das Umfeld, in dem wir leben. Vor allem die Beziehung zum verstorbenen Menschen beeinflusst unser Trauern.

Wenn jemand den Verlust eines Elternteils nicht verkraftet, sollte dann ein Geschwister als Trauerbegleiter einspringen?

Es ist nicht ideal, wenn ein Geschwister die Trauerbegleitung übernimmt, da jedes Kind eine einzigartige Beziehung zu dem Elternteil hatte und individuell trauert. Ein Austausch innerhalb der Familie ist hilfreich, doch sollte eine neutrale Begleitung zur Seite stehen, um Verwicklungen innerhalb der Geschwisterbeziehungen zu vermeiden. Selbstverständlich können sich die Geschwister und nahestehende Menschen einander im Trauern unterstützen, indem sie die Trauer miteinander teilen und für einander da ist.

Wie geht man mit Wut und Groll um, wenn man trauert?

Diese Gefühle sind Teil des natürlichen Trauerprozesses, zu dem auch grundlegende Emotionen wie Angst und Freude gehören. Wut kann durch den Verlust entstehen und ist eine normale Reaktion. Der Trauerprozess umfasst das Abschiednehmen von der verstorbenen Person und die anschliessende Neuorientierung, bei der alle Gefühle zum Vorschein kommen können. Es geht darum, zu lernen, mit diesen Gefühlen umzugehen und das eigene Leben ohne den geliebten Menschen neu zu gestalten. Wichtig ist, dass jedes Gefühl sein darf.

Gelingt das jeder Person? 

Ja. Jeder Mensch hat die Fähigkeit, Trauer zu durchleben, allerdings geschieht dies nicht bei allen gleich schnell oder auf dieselbe Art und Weise. Menschen sind lernfähig und das Erlernen mit Sterben, Tod und Trauer zu leben, ist Teil unserer Natur. Es ist jedoch wichtig zu erkennen, dass die Art und Weise, wie Trauer verarbeitet wird, individuell verschieden ist. Intrafamiliäre Erwartungen, dass alle Familienmitglieder gleich trauern, können zusätzlichen Druck erzeugen und sind nicht hilfreich.

Wie können Geschwister trotz Entfernung zusammen trauern?

Dank moderner Kommunikationsmittel wie WhatsApp-Gruppen oder Videokonferenzen ist es heutzutage einfacher, in Kontakt zu bleiben. Diese Mittel erleichtern den Austausch und das Teilen von Gefühlen und Erinnerungen. Zum Beispiel: Meine Geschwister und ich nutzen diese Kanäle, um uns zu kontaktieren und teilen vielleicht ein Foto oder ein Erlebnis, das uns an unsere verstorbene Mutter erinnert und uns in unserer Trauer verbindet.

Wie beeinflusst Ihre eigene Erfahrung Ihre Arbeit als Trauerbegleiterin?

Die eigene Auseinandersetzung mit Trauer hat viel mit persönlicher Erfahrung zu tun. Als Dozentin dachte ich zuerst, die von Elisabeth Kübler-Ross beschriebenen fünf Phasen der Trauer würden ausreichen, um Trauerprozesse zu verstehen. Doch Trauerbegleitung umfasst mehr als nur den Verlust eines Menschen; sie bezieht sich auch auf das Leben überhaupt und auf das Sterben selbst, das ein ständiges Abschiednehmen im Leben darstellt. Persönliche Verlusterfahrungen, wie der Tod eines langjährigen Haustieres oder der Umzug in eine neue Umgebung, haben mir gezeigt, dass auch in diesen Situationen Trauer ein natürlicher Teil des Lebens ist und nicht pathologisiert werden sollte. Trauer gehört zu unserem Leben dazu und macht uns bewusst, wie einzigartig jeder Moment ist.

Wann haben Sie sich entschieden, Trauerbegleiterin zu werden?

Um Trauerbegleiterin in der Schweiz zu werden, beginnt der Weg oft mit persönlichen Erfahrungen im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer, wie es bei mir der Fall war, als ich als Pflegefachfrau tätig war. Mein Interesse an dem Thema führte mich dazu, eine spezielle Ausbildung in Trauerbegleitung zu absolvieren. Ursprünglich hatte ich vor, nur zu lehren, aber bald erkannte ich, wie tief dieses Thema mit mir selbst verwoben ist. Die Reflexion darüber, wie wichtig Wissen und Empathie in diesem Beruf sind, machte mir klar, dass reine Empathie allein nicht ausreicht.

Was braucht es sonst noch?

Für komplexe Trauersituationen ist ein tiefes Verständnis der individuellen Familiengeschichte und der zugrundeliegenden Dynamiken erforderlich. Besonders wenn ein Elternteil stirbt, können alte Geschichten, Beziehungsprobleme und ungelöste Konflikte aus früheren Zeiten an die Oberfläche kommen. Diese vermischen sich mit der aktuellen Trauer und schaffen ein verwirrendes Geflecht aus Emotionen und Erinnerungen. Es gilt zu unterscheiden, welche Emotionen zum aktuellen Trauerprozess gehören und welche Teil der Familienhistorie sind. 

Wie läuft eine Trauerbegleitungsstunde bei Ihnen ab?

Ich führe zuerst ein Erstgespräch, um die Menschen kennenzulernen und festzustellen, ob sie sich in einem Trauerprozess befinden oder ob andere Themen sie belasten. Nach unserem ersten Treffen haben die Klientinnen und Klienten Zeit, darüber nachzudenken, ob sie eine Trauerbegleitung in Anspruch nehmen möchten. Es ist wichtig, dass sie sich bewusst dafür entscheiden, eigeninitiativ werden und auf mich zugehen. Sollten ihre Herausforderungen aber über Trauer hinausgehen, empfehle ich ihnen eine professionelle Therapie.

Was kostet eine Stunde Trauerbegleitung und wer übernimmt die Kosten?

In der Regel tragen trauernde Personen oder Familien die Kosten für eine Trauerbegleitung selbst. Da es keine festgesetzten offiziellen Honorare gibt, können die Kosten variieren. Ich biete ein vergleichsweises günstiges Honorar von 110 Franken pro Stunde an. Ein Erstgespräch ist kostenlos, um die Basis für eine potenzielle Trauerbegleitung zu schaffen, ohne eine Verpflichtung zu erzeugen. Die Begleitung ist in der Regel in maximal drei Sequenzen zu je sieben Sitzungen strukturiert, wobei die siebte Sitzung immer ein Standortgespräch darstellt. Notfallsituationen, die durch akute Trauer ausgelöst werden, sind selten, aber in solchen Fällen stehen Trauerbegleiterinnen bereit, um Unterstützung zu leisten.

Kann es helfen, schon vor dem Tod eines geliebten Menschen eine Trauerbegleiterin oder einen Trauerbegleiter hinzuzuziehen?

In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass durch die Zunahme von Palliative Care immer mehr Menschen Unterstützung suchen, wenn bei Angehörigen eine lebensbedrohliche Krankheit diagnostiziert wird oder das Lebensende absehbar ist. Es geht darum, die verbleibende Zeit sinnvoll zu gestalten und sich darauf vorzubereiten, wie man nach dem Verlust weiterleben kann. Das bewusste Erleben von Trauergefühlen noch zu Lebzeiten kann helfen, das Leben in seiner ganzen Fülle zu würdigen und sich auf den Abschied vorzubereiten.

Gibt es in der Schweiz spezielle Schulungen oder Institutionen für Trauerbegleitung?

In der Schweiz ist die Trauerbegleitung ein privatisierter Bereich, und es gibt keine offiziellen, staatlich anerkannten Ausbildungslehrgänge für diese spezielle Unterstützung. Anders als in Deutschland und Österreich, wo es qualifizierte Institutionen gibt, die eine solche Ausbildung bundesweit anbieten, kann in der Schweiz jede und jeder Trauerbegleitung anbieten, sei es ehrenamtlich oder professionell. Dies kann die Suche nach qualifizierten Trauerbegleitungen erschweren, insbesondere wenn man niemanden in der jeweiligen Region kennt. Aus diesem Grund wurde der Verein Krisen- und Trauerbegleitung gegründet, um Ansprechpartner in der Schweiz zu vernetzen und zur Verfügung zu stellen und die Einführung von Ausbildungsprogrammen wie das Pilotprojekt CAS Trauerbegleitung an der Fachhochschule Wallis zu fördern.

Wie finde ich einen guten Trauerbegleiter in der Nähe und was ist der Unterschied zwischen freiberuflichen und fest angestellten Trauerbegleitern?

Um in Ihrer Nähe eine qualifizierte Trauerbegleitung zu finden, kann der von Fachleuten gegründete Verein hilfreich sein, der darauf abzielt, qualifizierte Trauerbegleitungen zu vernetzen. Bei der Wahl einer Trauerbegleitung ist es wichtig, auf die Qualifikation zu achten, denn die blosse Erfahrung persönlicher Trauer ist für eine professionelle Begleitung nicht ausreichend. Es bedarf einer gründlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie und kontinuierlicher Selbstreflexion. Zudem ist Wissen aus der Trauerforschung und Kenntnisse über psychische Erkrankungen entscheidend, da ein Verlust psychische Störungen auslösen kann. 

Welche Schwierigkeiten begegnen Ihnen bei Ihrer Arbeit?

Mein Alltag ist geprägt von der Gestaltung persönlicher Nähe und Distanz zu den Klienten. Die Herausforderung besteht darin, professionell zu bleiben, auch wenn meine Trauer durch ähnliche Erfahrungen der Klienten berührt wird. Es ist wichtig, dass ich meine Erfahrungen nicht auf die Klienten projiziere. Seit 25 Jahren arbeite ich als Trauerbegleiterin. Ich habe gelernt, den Tag mit einem Ritual abzuschliessen, in dem ich reflektiere, was gut gelaufen ist und wo ich noch wachsen kann. Unterstützung und Supervision sind dabei unerlässlich, um die eigene Professionalität und das emotionale Gleichgewicht zu wahren.

Haben Sie Hobbys, die Ihnen emotionale Ausgeglichenheit bringen?

Ja. Ich reite leidenschaftlich gerne und habe ein Pferd, das mich seit 25 Jahren begleitet. Es ist eine grosse Stütze, vor allem an schwierigen Tagen. Ausserdem gehe ich Ski- und Schlittschuhfahren und geniesse es, historische Bücher und Biografien zu lesen sowie zeitgenössische Literatur. Das Schreiben, insbesondere von Kurzgeschichten, ist ebenfalls eine meiner Freizeitbeschäftigungen.

Reden Sie mit Ihrem Ehemann über Ihre Arbeit?

Ich stehe unter absoluter Schweigepflicht. Mein Mann und ich kennen uns seit vierzig Jahren. Er ist schulischer Heilpädagoge und Musiktherapeut, und wir teilen eine enge berufliche Verbundenheit. Obwohl wir in vielen Bereichen ähnlich arbeiten, achten wir darauf, klare Grenzen zu setzen, um sowohl individuellen Raum als auch Zeit für unsere Beziehung zu bewahren.

Zur Person

Erika Schearer-Santschi blickt in die Kamera.
Erika Schärer-Santschi. © zVg.

Erika Schärer-Santschi (61) betreibt seit 25 Jahren eine Praxis in Thun im Bälliz BE. Sie ist gelernte diplomierte Pflegefachfrau, Trauerbegleiterin, MAS-Palliative Care und Dozentin in den Bereichen Gesundheit und Soziales. Ihre Klientel ist zwischen 14 bis 84 Jahren, wobei sie sowohl Frauen als auch zunehmend Männer betreut. Sie ist verheiratet und lebt in Thun BE.

 

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