Polypharmazie im Alter: Pillen statt Pflege
Schweizer Altersheime verabreichen ihren Bewohnerinnen und Bewohnern immer mehr Medikamente. Zu diesem Schluss kommt eine aktuelle Studie. Besonders beliebt sind Neuroleptika, die eigentlich für Schizophrene gedacht sind. Daneben erhalten Senioren weitere Pillen. Der Pillenmix kann für sie fatal sein: Älteren wird schwindlig, sie stürzen mehr und müssen häufiger ins Spital eingeliefert werden. Angehörige müssen dem nicht hilflos zusehen. Wie Sie sich erfolgreich wehren, erfahren Sie in diesem Artikel.
Polypharmazie – das Wichtigste in Kürze
- Schweizer Altersheime setzten immer mehr Pillen ein. Mehr erfahren Sie hier
- Fast 50 Prozent erhielten pro Woche neun oder mehr verschiedene Medikamente. Wieso das ein Problem ist, lesen Sie hier
- Besonders beliebt in Altersheimen sind Pillen mit dem Wirkstoff Quetiapin. Was bewirkt der Wirkstoff?
- Sind die Medikamente zu stark oder werden zu veile verabreicht, können sich Angehörige und Heimbewohner wehren. So gehen Sie vor
- Werden Ihre Anliegen nicht ernstgenommen, können Sie sich an eine Fachstelle wenden. Diese helfen Ihnen weiter. Diese Anlaufstellen helfen
Schon länger ist bekannt: Schweizer Altersheime sind häufig am Limit. Ihnen fehlt das Personal. Die Corona-Pandemie hat die Situation in den Heimen weiter verschärft. Jetzt bringt eine, noch unveröffentlichte Studie Erschütterndes zutage: Schweizer Altersheime setzen immer mehr Pillen ein, um die Bewohnerinnen und Bewohner ruhigzustellen.
Was ist Polypharmazie?
International gibt es keine anerkannte Definition. Unter Polypharmazie wird meist die gleichzeitige Einnahme von vier und fünf Medikamenten bezeichnet, wenn sie längerfristig von den Patienten eingenommen werden.
Polypharmazie: Fast die Hälfte erhalten Pillenmix
In der Schweiz ist jeder fünfte bis jeder dritte Patient über 70 Jahre polypharmaziert. Bis zu 43 Prozent der älteren Patientinnen und Patienten über 65 Jahre nehmen potentiell gefährliche Medikamente ein, je nach Pflegebedürtigkeit und je nach Alter.
Für die oben erwähnte Studie haben die Studienautoren die Daten von 619 Schweizer Heimen aus den Jahren 2019 und 2020 erhoben. Die Autoren beschränkten sich dabei auf Bewohnerinnen und Bewohner, die nicht an Schizophrenie litten. Laut dem Tagesanzeiger, dem die Studie vorliegt, erhielten fast 40 Prozent von ihnen ein Neuroleptikum und viele andere Pillen. Fast 50 Prozent erhielten pro Woche neun oder mehr verschiedene Medikamente.
Polypharmazie: Mögliche Nebenwirkungen
Polypharmazie stellt ein gesundheitliches Risiko dar: Mit jedem weiteren Medikament steigt das Risiko, dass es zu Wechselwirkungen der Wirkstoffe kommt. Patientinnen und Patienten erleiden Nebenwirkungen.
Für Senioren gilt das erst recht. Sie stürzen mehr, ihre Gebrechlichkeit steigt und sie müssen häufiger ins Spital eingeliefert werden. Um die Nebenwirkungen in den Griff zu bekommen, geben Ärzte den Patientinnen und Patienten noch mehr Medikamente. Ein Teufelskreis beginnt.
Die Studie ist keine Momentaufnahme. Bereits eine frühere Erhebung der Stiftung Patientensicherheit Schweiz kam zum Schluss: über 80 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner in Altersheimen sind von Polypharmazie betroffen.
Polypharmazie: Das sind die Gefahren
Besonders beliebt sind Pillen mit dem Wirkstoff Quetiapin. Er gehört zu den Neuroleptika. Laut dem Arzneimittelreport 2020 der Krankenkasse Helsana nahmen die Bezüge in vier Jahren um fast 30 Prozent zu.
Gedacht sind Neuroleptika für Menschen, die unter Schizophrenie oder bipolaren Störungen leiden. Sie bei Wahnvorstellungen und Halluzinationen.
Ärzte verabreichen die Medikamente aber auch Menschen, die gar nicht an solchen Krankheiten leiden. Gemäss dem Tagesanzeiger kommen sie flächendeckend auch in Altersheimen zum Einsatz. Die Pillen machen die Bewohnerinnen und Bewohner müde und dämpfen sie stark.
Die Medikamente können aber auch zu Schwindel führen. Senioren stürzen in der Folge häufiger. Eine weitere Nebenwirkung: Patienten nehmen durch die Pillen stark zu. Übergewicht im Alter aber erhöht das Sterberisiko.
Politik schaltet sich ein
SVP-Nationalrätin Verena Herzog reichte im Dezember 2020 eine Motion ein. In dieser verlangte sie, den Einsatz von Neuroleptika in Altersheimen zu drosseln. Sie forderte zudem, dass Heime vor der Abgabe von Medikamenten das 4-Augen-Prinzip einhalten. Der Bundesrat sah keinen Handlungsbedarf und lehnte die Motion ab.
Die aktuelle Studie bringt die Diskussion über den Einsatz von Medikamenten in Altersheimen wieder ins Rollen. Verena Herzog : «Die Politik muss das Thema endlich angehen. Bei Polypharmazie handelt sich nicht um Einzelfälle.» Falls ihre Motion in der Juni-Session vom Rat noch nicht behandelt werde, würde sie zu «diesem traurigen Thema» weitere Fragen einreichen.
Das können Angehörige tun
Angehörige und Heimbewohner müssen nicht hilflos zusehen, wenn sie das Gefühl haben, die Medikamenten seien zu stark oder es werden zu viele verabreicht. Daniel Tapernoux, beratender Arzt bei der SPO Patientenorganisation, sagt: «Ich ermutige Angehörige sich zu melden, auch wenn das Überwindung und Mut braucht. Ein gutes Heim hat Interesse daran, die Angehörigen anzuhören und miteinzubeziehen.»
Das können Sie tun:
- Wenden Sie sich an die Pflegeleitung oder Heimleitung und verlangen Sie eine Aussprache.
- Nicht immer ist das Herabsetzen des Medikaments medizinisch sinnvoll oder möglich. Ein Gespräch kann aber einen Input liefern, das Medikament kritisch zu überprüfen.
- Verlangen Sie – wenn Sie dazu berechtigt sind – Einsicht in das Patientendossier und holen Sie sich zur Medikamentenabgabe eine Zweitmeinung ein.
- Setzen Sie das Medikament auf keinen Fall auf eigene Faust ab, sondern nur in Absprache mit dem Fachpersonal.
- Machen Sie sich Gesprächsnotizen. Sie dienen dazu, die wichtigsten Gesprächsinhalte und -fakten schriftlich festzuhalten. Bewahren Sie die Notizen gut auf. Im Streitfall können sie hilfreich sein.
- Fühlen Sie sich nicht ernstgenommen, reichen Sie eine schriftliche Beschwerde an die Trägerschaft der Institution (z.B. Stiftungsrat) ein.
- Verlangen Sie eine Eingangsbestätigung.
- Finden Sie kein Gehör, wenden Sie sich an die kantonale Ombudsstelle oder an die Unabhängige Beschwerdestelle für das Alter.
- Nützt alles nichts, überlegen Sie sich das Heim zu wechseln. Was Sie beachten müssen, lesen Sie hier
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